Was bedeutet pervers?
Sexualität pervers, Vorlieben pervers, Menschen pervers – alles pervers
Der Begriff pervers wird vor allem definiert als etwas sexuelles, das gegen die Natur ist. Mittlerweile wird pervers synonym zu abartig, ekelhaft, abnormal, unnormal, manchmal sogar krank benutzt. Überall steckt eine Wertung drin. Bei all diesen Begriffen schwingt mit, dass sich eine bestimmte Gruppe von Menschen herausnimmt, die sexuellen Vorlieben von Einzelpersonen oder einer anderen (oft kleineren) Gruppe von Menschen abzuwerten. Und das ist der Knackpunkt: Es geht nicht um eine bloße _Be_wertung, sondern um eine _Ab_wertung.
Medizin, Psychoanalyse und der Begriff der Perversion
Wenn Menschen an Psychotherapie denken, dann denken sie an Psychoanalyse. Gleiches gilt für viele Kulturschaffende. Sei es in Filmen, in der Literatur, im Theater oder sonstwo: Es wird sich gerne psychoanalytischer Elemente bedient. Und das führt dazu, dass bestimmte Ideen und Begriffe, die in der Psychoanalyse genutzt werden, weit verbreitet wurden. So auch der Begriff der Perversion.
In der Psychoanalyse wird alles Krankhafte und Abnormale als pervers bezeichnet, aber besonders im sexuellen Kontext. Menschen können dieser Ansicht nach perverse Charakterstörungen haben oder eben perverse sexuelle Vorlieben. Die Beschreibung pervers existierte allerdings schon vorher und wurde regelmäßig in der Medizin genutzt, um etwas Krankhaftes zu beschreiben. Damals war es ein relativ wertneutraler Begriff. Mit Sigmund Freud und seiner Psychoanalyse wurde der Begriff vor allem in einem sexuellen Kontext angewandt.
Pervers als Abweichung von der Norm
Das Lateinische „pervertere“ bedeutet auf Deutsch „verdreht“. Es wurden also alle vermeintlich verdrehten sexuellen Vorlieben und Neigungen als pervers bezeichnet. Verdreht war und ist alles, was nicht der Norm entspricht. Was aber „die Norm“ sein soll, ist stark abhängig von der Zeit und dem kulturellen Umfeld, in dem wir leben. Früher galt Homosexualität als pervers. Heutzutage gilt sie zum Glück nicht mehr als pervers, aber dafür andere Vorlieben.
In manchen Kulturen würden (Zungen-)Küsse oder Oralverkehr als abnormal bzw. pervers eingestuft werden. Aus unserer Sicht in Deutschland wirkt das total seltsam – warum sollte Küssen pervers sein? Genau das Gleiche gilt aber für die sexuellen Vorlieben anderer Menschen in unserem Umfeld – warum sollten diese pervers sein? Warum sollten diese abgewertet und als unnormal dargestellt werden?
Abwertung hat in der Regel eine simple Funktion: Indem wir andere abwerten, also klein machen, stellen wir uns über sie, machen uns also größer. Wir stellen uns als etwas oder jemand besseres dar. Wie traurig ist das eigentlich, wenn der eigene Selbstwert so klein ist, dass man andere niedermachen muss, um sich selbst ein bisschen besser zu fühlen?
Pervers ist nicht wissenschaftlich und schon gar keine Diagnose
Weder in der Sexualwissenschaft, noch in der Psychologie und Psychotherapie wird der Begriff „pervers“ gebraucht. Heutzutage ist es ein von der Psychoanalyse verwendeter Begriff, der aber im wissenschaftlichen Kontext und in der Forschung keinerlei Anwendung findet. „Pervers“ gibt es auch nicht als Diagnose.
Ich für meinen Teil würde mir auch wünschen, dass die psychoanalytisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen ihr Vokabular überarbeiten und den Begriff streichen. Unsere Aufgabe als Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ist es nicht, eine Geheimsprache zu haben, die Außenstehende nicht verstehen sollen – unsere Aufgabe ist es, den Menschen Leidensdruck zu nehmen und Selbstakzeptanz zu fördern. Und Akzeptanz gelingt leichter wenn wir uns bewusst machen, dass niemand „besser“ ist als andere, erst recht nicht was sexuelle Fantasien und Vorlieben betrifft.