Pornosucht
Eine Sucht, die keine ist?
Wenn ich auf den sozialen Medien unterwegs bin, begegnet mir immer wieder das Thema Pornosucht, manchmal auch Internetsexsucht oder zwanghafte Selbstbefriedigung genannt. Natürlich gibt es Menschen, die ein problematisches Verhältnis zu pornografischem Material oder zur Selbstbefriedigung haben, ich will niemandem etwas absprechen – das Problem ist nur, dass es die Diagnose „Pornografiesucht“ schlichtweg nicht gibt. Sie existiert nicht.
Das Problem mit Pornografiesucht und die Lösung
Wissenschaftlich wird über das Konzept der Sucht gestritten, wenn es um Pornos oder Sexualität geht. Ein Team von Forschenden hat sich 333 wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema „Pornosucht“ aus den Jahren 1995 bis 2020 durchgesehen und kommt zu folgenden Ergebnissen: Erstens gibt es kein allgemeines Konzept, das heißt, manche Psychotherapeut:innen definieren es als eine Sucht und behandeln es wie eine Sucht, andere definieren es als eine Art zwanghaftes Verhalten und behandeln es dementsprechend, wieder andere definieren es als Impulskontrollproblem und behandeln es so. Oder versuchen es zumindest, denn es gibt keine vielversprechende Behandlung, weil es ja keine allgemeingültige Definition bzw. Diagnose gibt. Und zweitens scheinen religiöse Psychotherapeut:innen eher problematisches Sexualverhalten oder problematischen Umgang mit Pornografie zu „diagnostizieren“.
Was wir allerdings ab 2022 haben werden ist die Diagnose der Compulsive Sexual Behavior Disorder, also der zwanghaften sexuellen Verhaltensstörung. Eine offizielle deutsche Übersetzung gibt es noch nicht. Mit diesem Konzept arbeiten wir aber jetzt schon. Diese Diagnose kann vergeben werden, wenn jemand den Eindruck hat, sich oft selbstbefriedigen zu müssen, sich nicht dagegen wehren kann und z.B. auch auf der Arbeit masturbiert. Zudem muss die Person darunter leiden, dass es so ist. Und der Alltag muss darunter leiden. Pornos müssen als Kriterium nicht auftauchen – wer nämlich den Eindruck hat, sich ständig selbstbefriedigen zu müssen und die Kontrolle darüber verloren haben könnte, muss dafür ja keine Pornos konsumieren.
Die Dosis macht das Gift – auch bei Pornografie
Pornos sind nicht per se gut oder böse. Unser Umgang mit ihnen ist ausschlaggebend. Es wird auch gerne berichtet, dass Pornokonsument:innen immer härtere Pornos schauen müssten, um überhaupt noch erregt zu werden und dann von einem Hardcore-Sexualverhalten zum nächsten kommen und das dann erregend fänden. Das ist psychologisch auch nicht haltbar – wir haben keinerlei Hinweise dafür, dass man sich bestimmte sexuelle Vorlieben „antrainieren“ könnte.
Verändern Pornos den Charakter?
Bisher deutet auch alles darauf hin, dass Pornokonsum nicht dazu führt, dass man sexuell aggressiver werde oder (seien wir ehrlich, die Argumentation ist meistens in diese Richtung) dass Männer durch Pornos frauenverachtender werden würden. Unser bisheriges Wissen deutet genau auf das Umgekehrte: Wer sowieso schon sexuell aggressiv war und/oder frauenfeindliche Einstellungen hatte, der sucht sich entsprechende Pornos und schaut sich diese an.
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Was, wenn ich doch das Gefühl habe, pornosüchtig zu sein?
Das alles gilt aber für die Allgemeinheit bzw. für den Durchschnitt, um genau zu sein. Bei einer Einzelperson kann das anders aussehen. Pornos können sich anders auswirken. Müssen sie aber nicht. Wir alle müssen aufpassen, dass wir bestimmtes Verhalten nicht als krankhaft einstufen, nur weil es uns vielleicht nicht passt oder weil wir uns anders verhalten. Wer aber feststellt, dass die Selbstbefriedigung oder der Pornokonsum die oben genannten Kriterien erfüllt, sei dazu aufgemuntert, mit einer:einem Psychotherapeut:in zu sprechen – man kann auch wieder die Kontrolle über sein Leben zurückgewinnen!